Street Art in Beauvoisin

Seit meiner frühsten Kindheit wandere ich. Ich liebe es. Andreas zum Glück auch. Auf meinen grossen Abenteuerreisen war ich viel zu Fuss unterwegs. Ob auf dem Mount Kenia, durch die Steppen und Wüsten der Mongolei, unter Tausenden von Mücken im Amazonas und selbstverständlich in den Schweizer Bergen. Wandern befreit die Seele und öffnet meinen Geist.

Unser neues Zuhause Vauvert und Umgebung bietet diesbezüglich ganzjährig ideale Bedingungen. Das Terrain ist zudem perfekt für alle Knie-und Hüftoperierten zu denen auch wir uns zählen. Gilt es nämlich kaum Höhenmeter zu überwinden. Keine lästigen Abstiege mit wackligen Knien. Perfekt für uns und sicher auch für viele unserer künftigen Envie de Sud Gäste.

Heute gehe ich alleine los. Ich starte direkt von der Haustüre aus. Ich plane ein Stück auf dem Jakobsweg zu wandern. Vauvert ist ein Etappenziel auf der Pilgerroute Via Tolosana. Ich entscheide, ein Stück in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Ich pilgere ja nicht wirklich. Mein Plan: durch die Costières de Nîmes in den Weiler Franquevaux wandern und dort dem Canal de Rhône à Sète bis Gallician folgen und ab dort auf dem Voie Verte zurück nach Vauvert. Nach meiner Einschätzung sind das zirka 20 km.

Die einzigen 80 Höhenmeter überwinde ich gleich hinter unserem Haus und schon befinde ich mich auf dem Plateau der Costières de Nîmes. Herrlich die Aussicht. Ich marschiere beschwingt voran. Ich sehe den Pic St. Loup und die Silhouette der Cevennen. In die andere Richtung die Betonpyramiden von La Grande Motte. An klaren Tagen im Winter sieht man bis zu den Alpen.

Die Reben werden jeden Tag dichter stelle ich fest. Ich wandere und wandere. Die Sonne strahlt und meine Trinkflasche wird leichter. Längst steht fest, dass ich mein Wanderziel anpassen muss. Kein Wunder. Ich habe mir nämlich die Freiheit genommen, die Wegzeichen zu ignorieren. Mein Bauch sagt mir, dass alles bestens ist. Eine Vorahnung liegt in der Luft. Gleich werde ich was Unerwartetes erleben. Mein Instinkt. Als ich kurze Zeit später das Ortschild Beauvoisin sehe, bin ich überrascht. Ich befinde mich nur etwa 5 km in Luftlinie vom Envie de Sud, bin aber fast 3 Stunden stramm gewandert. Offenbar im Zickzack.

Und dann taucht die Überraschung auf. Gleich am Dorfeingang stechen mir kleine stempelartige Graffitis an den Hauseingängen ins Auge. Die Motive zeigen typische Symbole der Umgebung. Einen Stier, einen Flamingo, einen Reiter auf einem Pferd, eine Arlésienne. Immer sind sie einfarbig in rot, schwarz, grün oder blau etwa. Alle tragen sie auch ein Datum. 2002. 1985. 2012. Und den Schriftzug VLJ. Entsprechend dem Alter sind die Bilder und Schriftzüge verblasst. Ich entdecke immer mehr Motive und will jetzt wissen, was es damit auf sich hat. Mein Nachbar Michel, mit seinen 87 Jahren, ist ein wandelndes Geschichtsbuch und weiss sofort von was ich spreche als ich ihn später besuche.

Empègues werden die «Graffitis» genannt. Sie datieren weit zurück. Am Fensterladen des Restaurants «Les Aubades» soll es ein Empègue von 1894 geben. Ich werde nochmals hingehen nehme ich mir vor. Am Anfang des 20. Jahrhunderts feierten die jungen Männer vor dem Einzug in den Militärdienst diesen Brauch. Heute lebt er noch immer. Den Militärdienst als solches gibt es nicht mehr. Aber gefeiert werden will noch immer und auch die Mädchen machen heute mit. Der Schriftzug VLJ bedeutet «Vive la Jeunesse. Es lebe die Jugend.» Die Jungen, welche das Erwachsenenalter erreichen, schliessen sich ein paar Tage vor der lokalen fête votive zusammen und gehen von Tür zu Tür um einen Batzen für den bevorstehenden Ausgang zu ersingen oder Gebäck zu verkaufen. Die spendablen Hausbesitzer erhalten zum Dank ein hübsches Empègue an die Mauer des Hauseingangs. «Wer viele hat, beweist dass er grosszügig ist. Für jedermann sichtbar. Das ist wichtig.» fasst Michel lachend zusammen.

Auch in anderen Orten der Petite Camargue wird man fündig. «In Vauvert hat man die klassischen Empègues durch bunt bedruckte Aufkleber ersetzt», erklärt mir Michel. Manche Hausbesitzer sorgten sich um das Bild ihrer Fassade und darum hat die «Mairie» dass vor ein paar Jahren so beschlossen. «Schade, mir als grosser Street Art Fan würden die klassischen Empègues weit besser gefallen», sage ich zu Michel.

Die Saison der fête votive aller Orte der Umgebung beginnt Mitte Juni. An jedem Wochenende steppt irgendwo der Bär. Oder in diesem Fall der Stier. Zusammengefasst DAS traditionelles Sommerfest mit lokalen Bräuchen rund um Stier und Pferd, Musik, Tanz, Markt und ganz viel Rosé. In Vauvert findet dieser Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens vom 12. bis 20. August 2017 statt.

Lasst euch die Gelegenheit nicht entgehen und taucht mit uns in die lokale Kultur ein. Wir freuen uns auf euch.

Herzlich,

Ursula & Andreas